Gesellschaft – Extrempositionen
Politische Positionen lassen sich in der Regel so weit in Details auflösen, dass eine Menge einzelner ‚elementarer Eigenschaften‘ übrigbleibt, bezüglich derer eine Position sich dann – jeweils für jede der Eigenschaften – immer irgendwo zwischen zwei Extremen verorten lässt; manchmal auch nicht dazwischen sondern an einem der Extreme. Erfahrungsgemäß stellen irgendwelche Positionen in der ‚goldenen‘ Mitte – also Kompromisse zwischen den Extrempositionen – die Lösungen dar, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden können und die funktionieren – in einer Demokratie ein wesentlicher Punkt.
Dabei geht es nicht nur um ‚Meinungen‘, auch sachlich liegen die besten Lösungen meist in der Mitte, denn Extreme werden meist unverhältnismäßig riskant und teuer. Beispiel: Just in Time Produktion – je geringer die Lagerhaltung, desto billiger kann produziert werden – alle profitieren davon. Fallen dann Transporte aus, steht nach Stunden die ganze Produktion still, weil man ja nichts am Lager hat. Eine ganze Lieferkette wird gestört und das wird sehr teuer. Der optimale Kompromiss ist also, ein kleines Lager: Riesen Lager sind zu teuer, gar kein Lager ist zu riskant und damit auf lange Sicht auch zu teuer. (In der Praxis zählt allerdings meist der schnelle Kosten-Vorteil, das Risiko ist … na ja … dumm gelaufen.) Ähnliche Zusammenhänge trifft man praktisch überall an: Am Anfang ist Optimierung preiswert und bringt viel, am Ende ist Optimierung teuer und bringt kaum noch Vorteile, aber viele Nachteile.
Ein für alle Menschen ganz grundlegendes Gegensatzpaar betrifft die Frage der ‚richtigen‘ Gesellschaftsform an sich, und so kämpfen in unserer Welt zwei Grundideen in ihren Extremen gegeneinander: das eine Extrem wurde von Margaret Thatcher vertreten und so einfach und klar formuliert: „There is no such thing as society“ – es gibt keine Gesellschaft. Also: jeder kämpft gegen jeden, fast ohne Einschränkung der Waffen, aber immer ohne Rücksicht oder Mitgefühl – der Sieger hat den Sieg verdient, weil er gesiegt hat und darf sich darum alles nehmen.
Das andere Extrem verfolgt die Idee, dass es keine Individuen gibt oder geben darf und dass nur das Kollektiv zählt, so ähnlich wie bei Ameisen – das Individuum hat keinen Wert, aber zusammen sind sie erfolgreich. Demnach sind alle Menschen so gleich, dass sie beliebig ausgetauscht werden können. Diese Vorstellung gab es im dritten Reich, ich sehe sie aber auch im Sozialismus und Kommunismus, in dem das Individuum als gefährlich betrachtet wird und wurde, und nur das Kollektiv zählt.
Beide Ideen schließen sich gegenseitig aus – und sind in der Tendenz faschistoid, denn sie leugnen das Wesen der Menschen – und damit seine Würde. Aber Individuum und Gesellschaft bedingen sich gegenseitig und Menschen wollen meist zugleich Individuum und auch Teil einer Gemeinschaft sein.
Beide Extrempositionen konsequent gedacht verlangen nach Gewalt, um die Gesellschaft in Formen zu zwingen, die NICHT den Wünschen der meisten Menschen entsprechen.
Bei genauerer Betrachtung stellt man allerdings fest, dass sogar die Vertreter dieser Extrempositionen diese gar nicht wirklich vertreten, denn sie klammern sich selbst dabei immer aus: Der Gesellschaftsfeind a la Thatcher braucht die hohe Produktivität der Gesellschaft der Anderen, um sie aussaugen zu können, der kommunistische Anti-Individualist betrachtet sich selbst als individuell überlegen, woraus er das Recht ableitet, sich über die Anderen zu stellen, die doch eigentlich gleich, gleichwertig und austauschbar sein sollten.
Das faschistische Mycel
So verschieden diese extremen Formen auch erscheinen mögen, gleichen sie sich doch in der Bereitschaft ihrer Anhänger, andere Menschen der eigenen Ideologie zu opfern und sie zu entmenschlichen: wer nicht zur eigenen Ideologie passt, verliert seine Menschenrechte und seine Würde. Ausgedrückt wird das beispielsweise durch eine nachhaltig entmenschlichende Sprache, die z.B. Juden ‚feige‘, ‚Parasiten‘ oder ‚Schmarotzer‘ nennt, Mütter zu ‚Brutmaschinen‘ macht, Väter als ‚Samengeber‘, Männer allgemein als ‚Trash‘ oder Männlichkeit als ‚toxisch‘ bezeichnet, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Der Trick dabei ist, durch wiederholendes Nennen solcher Begriffe zusammen mit der Zielgruppe, ein negatives Framing zu erzeugen, das nach einiger Zeit automatisch zu Ablehnung und Abwertung führt, ohne dass die Ursachen noch bewusst wären.
Möglich wird diese Entmenschlichung durch Empathilosigkeit (wobei es selbstverständlich auch hier kein simples Schwarz/Weiß gibt; jemand kann auch wenig oder kaum Empathie zeigen, ohne vollkommen empathielos zu sein) und daraus resultierend – wenngleich oft nur implizit – der Möglichkeit zur Unterscheidung in wertes und unwertes Leben. Beide Extreme haben damit eine gemeinsame Basis, die ich das faschistische Mycel nenne. Die bekannteste Frucht die dieses Mycel hervorbringt, ist vielleicht der klassische Faschismus, aber in Abhängigkeit von den Umständen bringt dieses Mycel auch verschiedenste andere ‚giftige Pilze‘ hervor, wie z.B. die Ausrottung von Ureinwohner aller Art, Stalinismus, Sklaverei und Rassismus. Früchten dieses faschistischen Mycels gemeinsam ist die Einteilung der Menschen in wertlose und wertvolle Gruppen, wobei die eigene Gruppe die ‚gute‘, die fremde dagegen minderwertig ist.
So ein Mycel kann lange im Verborgenen lauern, denn es braucht bestimmte Bedingungen um auszutreiben; so lange lauert es fast unerkannt im Untergrund und wartet auf die richtigen Bedingungen um ans Tageslicht zu kommen. Dann durchbricht es die harmlos erscheinende Oberfläche, beginnt auszutreiben und Schrecken zu verbreiten.
Darum ist es wichtig, immer die Augen offen zu halten und auf die Anzeichen zu achten, die das faschistische Mycel ausmachen: Empathilosigkeit und entmenschlichende Sprache.